J. Steiner: Bern – eine Wohlfühloase?

Cover
Titel
Bern - eine Wohlfühloase? Der Weg zur rot-grünen Hauptstadt.


Autor(en)
Steiner, Jürg
Erschienen
Bern 2020: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
156 S.
Preis
CHF34.00
von
Daniel Weber

6. Dezember 1992 – ein historischer Tag für die Schweiz: Die Stimmberechtigten lehnten den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) knapp mit 50,3 Prozent Neinstimmen ab, was unser Verhältnis zu Europa bis heute bestimmt. Ein denkwürdiger Tag aber auch für die Bundesstadt Bern, wo das Parteienbündnis Rot-Grün-Mitte (RGM) überraschend als Sieger aus den Wahlen hervorging und erstmals eine Mehrheit der sieben Sitze im Gemeinderat beanspruchen konnte. Auch bei der Stichwahl um das Stadtpräsidium einige Wochen später setzte sich der sozialdemokratische Kandidat Klaus Baumgartner durch, worauf der unterlegene Josef Bossart (CVP) zurücktrat und im Gemeinderat durch Ursula Begert (SVP) ersetzt wurde. Da zuvor bereits die RGM-Vertreterinnen Therese Frösch und Joy Matter sowie die Freisinnige Theres Giger gewählt worden waren, wies erstmals ein Regierungsgremium in der Schweiz eine Frauenmehrheit auf, was den rot-grünen Wahlsieg noch bemerkenswerter macht.

Während die aussergewöhnliche Frauenmehrheit nur eine Legislatur (bis 1996) Bestand hatte, sind die politischen Mehrheitsverhältnisse in der Stadt Bern seither nahezu unverändert geblieben. Im November 2020 feierte RGM den achten Wahlerfolg in Serie, und seit 2017 regiert das Bündnis sogar mit einer (über-)deutlichen 4:1-Mehrheit im inzwischen verkleinerten Gemeinderat. Diese unerwartete Erfolgsgeschichte hat auch mit dem speziellen Stadtberner Wahlrecht zu tun, das grosse Parteienbündnisse bevorteilt. Wie diese Bedingungen RGM bei der Übernahme der Regierungsmehrheit 1992 in die Hände gespielt haben und wie sich das Bündnis in der Folge zur bestimmenden politischen Kraft in Bern entwickeln konnte, ist Thema des Buches von Jürg Steiner. Es nimmt Berns jüngste politische Geschichte in den Blick und versucht dabei, ein «nüchternes Bild der Verdienste und Irrwege der rot-grünen Stadt» zu zeichnen.

In zehn knappen Kapiteln beschreibt der Autor Berns Weg zur rot-grünen Hauptstadt und erzählt dabei die Geschichte einer «bürgerlichen, bedächtigen Verwaltungsstadt», die sich in den vergangenen dreissig Jahren in eine «progressive urbane Hochburg» verwandelte. Ausgangspunkt ist ein Blick zurück in die späten 1980er-Jahre, als Bern von heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen bürgerlicher Regierungsmehrheit und links-alternativem Lager geprägt war (Zaffaraya, Reithalle). Dabei ging es nicht nur um Politik, sondern um gänzlich unterschiedliche Vorstellungen von gesellschaftlicher Entwicklung und Lebensgestaltung. Nach der strategisch klug vorbereiteten Machtübernahme machte sich die neue Regierung zügig und resolut an die Umsetzung ihres rot-grünen Stadtentwurfs: Sie beruhigte den Verkehr und verlegte Parkplätze in unterirdische Parkhäuser, baute externe Kinderbetreuung und öffentlichen Verkehr aus, engagierte sich für Gleichstellung und für die Integration von Ausländerinnen und Ausländern und investierte in sozialen Wohnungsbau. Damit begann ein politischer Aufbruch, der die kriselnde Stadt trotz der schlechten Finanzlage bereits in den 1990er-Jahren wieder erstarken liess.

Ab der Jahrtausendwende konnte die gefestigte rot-grüne Mehrheit die vielfältigen Investitionen in die Lebensqualität weiter ausbauen. Schrittweise machte sie aus Bern eine «blühende Wohlfühloase», in der sich der Staat um scheinbar jedes Anliegen seiner Bürgerinnen und Bürger kümmert, so Steiner. Dabei verweist er zu Recht darauf, dass dies nicht allein das Verdienst der rot-grünen Politik war, sondern auch den wirtschaftlich günstigen Bedingungen und insbesondere der Schwäche der bürgerlichen Opposition geschuldet war, die zunehmend an Bedeutung und Wähleranteilen verlor. Kehrseite der Erfolgsgeschichte ist aus seiner Sicht eine zunehmende Selbstgefälligkeit von RGM und eine Klientelpolitik, die primär dem eigenen Machterhalt dient. Dies verursache nicht nur enorme Kosten, sondern erschwere auch eine fruchtbare Zusammenarbeit mit den übrigen politischen Kräften und drohe die Stadt in die Stagnation zu führen.

Autor Jürg Steiner ist als langjähriger Berner Lokaljournalist und Buchautor ein ausgewiesener Kenner der städtischen Politik und bestens vernetzt in der lokalen Politlandschaft. Ausführlich beschreibt er in seinem Buch das besondere Verhältnis der rotgrünen Stadt zum autonomen Kulturbetrieb in der Reithalle, spürt dem städtischen Quartierleben im bevölkerungsreichen, multikulturellen Berner Westen nach und berichtet über den Wandel der Beziehungen zwischen der rot-grünen Stadtregierung und den beiden Spitzensportvereinen SC Bern und BSC Young Boys, deren Meistertitel 2018 nach einer Durststrecke von 32 Jahren auch von der Stadt überschwänglich gefeiert wurde. Dabei wählt Steiner keinen wissenschaftlichen, sondern einen journalistisch-dokumentarischen Zugang: Seine Ausführungen fassen die Erfahrungen und Erkenntnisse zusammen, die er als langjähriger Beobachter und kritischer Kommentator der städtischen Politik in den letzten dreissig Jahren gewonnen hat. Zudem stützt er sich auf «vertrauliche Hintergrundgespräche» mit rund vierzig Personen, die als Akteurinnen und Akteure die politische Entwicklung selbst mitgestaltet und geprägt haben.

Steiners Buch ist denn auch mehr anregender politischer Essay denn wissenschaftlich fundierte Analyse. Darin liegt gerade seine grösste Stärke: Anschaulich und kenntnisreich zeichnet der Autor die jüngste politische Entwicklung Berns nach, ergänzt mit zahlreichen Anekdoten und Hintergrundgeschichten rund um die handelnden Akteurinnen und Akteure. Im Gegensatz dazu steht die etwas karge Gestaltung des Buches, das bedauerlicherweise gänzlich auf Bildmaterial verzichtet. Informativ und hilfreich sind hingegen die ausführliche Zeittafel und die Übersicht über die Zusammensetzung des Gemeinderates seit 1981 am Ende des Textes. Insgesamt liefert Steiner mit seinem Buch einen abwechslungsreichen und lesenswerten Überblick über die städtische Entwicklung seit den rot-grünen Anfangsjahren und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur aktuellen politischen Debatte in der Stadt Bern.

Zitierweise:
Daniel Weber: Rezension zu: Steiner, Jürg: Bern – eine Wohlfühloase? Der Weg zur rot-grünen Hauptstadt. Bern: Stämpfi 2020. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 1, 2022, S. 51-53.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 1, 2022, S. 51-53.

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